Original erschienen in der FAZ am 9. März 2021 (https://zeitung.faz.net/faz/rhein-main/2021-03-09/aber-die-pumpe-tuts-doch-noch/582047.html)
Autor: Michel Krasenbrink (vielen Dank für die Genehmigung zur Veröffentlichung des Artikels)
„Aber die Pumpe tut’s doch noch“
Für Ulrich Voepel ist klar: „Ohne Sport hätte ich mein Alter nicht erreicht.“ Er, ein stabil gebauter älterer Herr mit weißem Haar, ist Jahrgang 1939 und lebt zusammen mit seiner Frau in Bergen-Enkheim. In normalen Zeiten hält er sich in Kursen seiner Trainerin Denise George von der SG Enkheim fit. „Die Denise George ist wirklich taff und anspruchsvoll. Am Anfang habe ich mich gefragt, ob ich mir das antun will“, sagt Voepel. „Aber jetzt bin ich froh, dass ich das mache.“ In den Wochen des Lockdowns bleibt die Vereinshalle zwar zu. Dennoch zieht Voepel die Fitnesskurse durch – und zwar über Youtube-Videos im eigenen Wohnzimmer.
Im Video drückt George ihre Handballen auf eine blaue Sportmatte, darunter sieht man den braun gefliesten Boden des Vereinsheims. „Ganz kurze Pause. Und Kraft sammeln. Und jetzt die nächsten zehn! Oder was hättet ihr gedacht?“, fragt sie provokant-sympathisch in die Kamera und setzt zum nächsten Liegestütz an. Denise Georges Übungen sind allein mit dem eigenen Körpergewicht umsetzbar. Die Verletzungsgefahr ist deshalb geringer als mit Gewichten, wobei Ulrich Voepel auch an einer Hantel vermutlich nicht scheitern würde. Hinter George hängt ein Banner der SG Enkheim – aufgespannt zwischen zwei silbernen Pokalen, die auf hölzernen Barhockern stehen. Diese Kulisse ist ihr Studio, hier filmt sie seit Dezember ihren virtuellen Fitnesskurs.
Denise George ist ebenfalls eine ältere Dame. Und auch sie ist taff und immer gut für einen lockeren Spruch. In einem ihrer Videos amüsiert sie sich zunächst über das schlechte Spiel des FC Bayern wenige Tage zuvor. Dann bittet sie ihre Zuschauer sympathisch, aber bestimmt, auf den Fußboden des eigenen Wohn-, Schlaf- oder Arbeitszimmers. Neben Voepel und einem weiteren Mann trainieren knapp 30 Frauen online mit. Die meisten sind zwischen 25 und 50 Jahre alt. Voepel fällt auf wegen seines Alters. Und trotzdem ist er voll dabei. „Wenn ich mal aus der Puste bin, mache ich halt eine Pause“, sagt er unaufgeregt. Allzu oft geschieht dies aber wohl nicht. Manche bezeichnen Voepel respektvoll als „Maschine“.
„Wenn jemand mit 82 Jahren mit Sport anfangen will, dann hält er den Kurs nicht durch“, stellt Denise George klar. „Aber Herr Voepel macht schon so lange Sport, der kann das kompensieren.“ Voepel zeigt während des Gesprächs ein verblasstes Farbfoto aus dem Jahr 1984. Darauf ist er zusammen mit seiner Frau zu sehen, mitten im Schnee, auf dem Gipfel eines Berges. Die beiden tragen bunte Wanderkleidung und blicken zufrieden in die Kamera. „Wir sind damals rauf bis auf den Mont Blanc“, sagt er. Rudern, Klettern, Gebirgswandern, Abfahrtski – all das habe er schon gemacht. „Ach so, und zwei Marathons in Frankfurt bin ich auch gelaufen.“
Seine Leidenschaft für den Skilanglauf entdeckte Voepel schließlich in den siebziger Jahren. Damals lebte er aus beruflichen Gründen in Chicago. Im eisigen Norden der Vereinigten Staaten führte ihn ein Kollege an die neue Sportart heran. Seither trägt Voepel eine besondere Uhr: „Eine A-V-O-C-E-T“, wie er buchstabiert. Die Uhr könne Höhenmeter messen, das sei perfekt zum Bergwandern und Skifahren. Noch im Februar 2020 waren er und seine Frau auf Abfahrtskiern unterwegs. „Da haben wir an einem Tag bis zu 10 000 Höhenmeter gemacht“, sagt Voepel.
Aus medizinischer Sicht leben die Voepels vorbildlich und altersgemäß. „Sport ist auch für Menschen höheren Alters einer der wirkungsvollsten Wege, gesund zu bleiben“, sagt der Allgemeinmediziner Anton Fluhr, der in seiner Praxis viele ältere Menschen begleitet. „Regelmäßige körperliche Bewegung im Rahmen der eigenen Möglichkeiten eignet sich wunderbar zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Ältere Menschen, die ihr ganzes Leben lang viel Ausdauersport getrieben haben, sind weniger anfällig für Infektionen, chronische Entzündungen und Autoimmunerkrankungen.“
Auch wenn es in Bergen-Enkheim keine Skipiste gibt und keinen Mont Blanc: Ulrich Voepel und seine Frau wollen dranbleiben. „Wir würden etwas vermissen, wenn wir nicht mehr sportlich aktiv sein könnten.“ Die Videokurse passen für die beiden gut in den Alltag. „Wann immer uns danach ist, klicken wir auf so ein Video“, sagt Voepel. „Wir haben ein großes Wohnzimmer. Da stellen wir den Computer dann auf Bauchhöhe in ein Regal. Und dann schalten wir die höchste Lautstärke ein und turnen mit.“ Die beiden sehen das mit dem Sport ganz locker, wie er hervorhebt. „Einige behaupten aber, wir seien verrückt, weil das aufs Herz geht. Aber die Pumpe tut’s doch noch!“
Beinahe jede Woche gibt es ein neues Video per Link. Und zwar nur für die Vereinsmitglieder, die schon vor dem Lockdown an Georges Kurs teilnahmen. Bis Dezember gab sie jeden Montagabend ihren Kursus im Volkshaus in Enkheim.